Von Eberhard Will, Mannheim
Hätte wir – also Sie und ich – anstelle unserer Regierenden einen Infektionsketten unterbrechenden Shotdown beschlossen, solange außer einer handvoll Infektiologen noch niemand Angst vor dem chinesischen Virus hatte? Eher nein. Hätten wir lieber noch ein wenig gewartet, ob die Sache vielleicht nicht ganz so schlimm wird? Wahrscheinlich ja. Hätten wir in der Zwischenzeit eine multidimensionale Risikoanalyse und Risikobewertung erstellen lassen, um eine mathematisch optimale Strategie zu finden? Keine Ahnung. Was wirklich getroffen wird, nennt man gewöhnlich eine politische Entscheidung.
Der offiziell gedisste Herr K. aus dem Bundesinnenministerium schreibt, eine Abwägung zwischen den Risiken der sich ausbreitenden Virusepidemie und den Folgen des Shotdown mit OP-Stopps, Kita- und Schulschließungen, Produktions-, Handels- und Behördenstillständen usw. habe nie stattgefunden. Dies stimmt sicher insofern, als es – wie zu lesen war – weder im Krisenstab noch im Kabinett dazu offizielle Vorlagen noch Tagesordnungspunkte gab.
Dennoch haben mit Sicherheit in allen Ministerien die fachlich zuständigen Referenten dazu – pflichtgemäß völlig unaufgefordert – Dutzende von sachkundigen Vermerken geschrieben. In denen werden sie gewohnheitsmäßig überwiegend entweder gewarnt oder Bedenken angemeldet haben. Abteilungsleiter haben die Papiere dann ergänzt, umgeschrieben, weitergeleitet, gestoppt oder mündlich vorgetragen. Auch wenn sie nicht alle diese Vermerke selbst gelesen haben, waren die politischen Entscheider zumindest über Briefings über die wichtigsten ihr Ressort betreffenden Zusammenhänge informiert. Auch darf man den meisten unter ihnen durchaus zubilligen, dass sie – wenn auch mit unterschiedlichen Ergebnissen – selbst in Zusammenhängen denken können. Haben die Kanzlerin und Dutzende Bundes- und Landesminister und Staatssekretäre also unter Missachtung der gesundheitlichen Kollateralschäden und der ökonomischen Verheerungen irrational entschieden, als sie erklärten, der Schutz von Leben und Gesundheit stünde für sie über allem? (So als ob man sich für ökonomische Einwände eigentlich schämen müsste.)
Die Sache wird verständlich, wenn man sich klar macht, worum es den Großpolitiker*innen im März 2020 wirklich ging: Es ging insbesondere darum, “hässliche Bilder” wie die aus Norditalien um jeden Preis zu vermeiden, mit Kranken auf den Fluren, röchelnden Patienten, barmenden Ärzten und im Bestattungsstau stehenden Särgen. Es war eine ähnliche Situation wie in anderer Sache im Spätsommer 2015 – auch damals galt es, häßliche Bilder zu vermeiden. Also hat man jetzt erst mal Platz geschaffen in den Kliniken für die erwarteten sichtbaren und zählbaren neuen, akuten Corona-Erkrankten, indem man die unscharf als “planbare” bezeichneten Fälle des laufenden Geschäfts in die intransparente Sphäre des Privaten geschoben hat. Pikanterweise war diese Prioritätensetzung selbst eine Art Triage – halt nicht durch Ärzte entschieden, sondern durch Politiker.
Natürlich musste man kein Arzt sei, um zu wissen, dass von zigtausenden unterbrochenen Behandlungen, aufgeschobenen Operationen und nicht begonnenen Rehabilitationen eine mehr oder minder große Zahl mit vorzeitigen Todesfällen enden würde. Aber diese würden anonym eintreten, ohne Kameras und in statistischer Verdünnung verteilt über viele Monate. Schlimmstenfalls würde die Öffentlichkeit Anfang 2021 merken, dass es im Vorjahr trotz Epidemie gar keine Übersterblichkeit gab, weil die Gesamtzahl der Verstorbenen nicht oder kaum höher war als 2019. Aber das wäre dann eben die begrüßenswerte Folge beherzter und besonnener Politik.
Und was ist mit den hausgemachten, nicht auf Lieferketten und konjunkturellen Nachfragemangel zurückzuführenden ökonomischen Zerstörungen? Nichts als eine gottgesandte Gelegenheit, Entschlossenheit zu zeigen, Schulden zu machen, Geld zu drucken, Stimmen zu kaufen und die politischen Windfall-Profits in Zeiten des Notstandes zu kassieren. Nichts davon ist irrational. Es gibt halt unterschiedliche Rationalitäten.