Von Eberhard Will, Mannheim
Mein letzter Life-AfD-Parteitag war der Spaltungsparteitag in Essen im Juli 2015. Dieses Mal war ich zu Gast in der Phoenix-Loge vor dem Fernseher. Zufällig hatte ich zuvor im Internet einen Vorabkommentar von Heribert Prantl (Alpen-Prawda) dazu gesehen, der der Partei zum wiederholten Male das Sterbeglöcklein läutete. Zwar ist bekannt, dass seine Wirklichkeitswahrnehmung und sein Urteilsvermögen ziemlich schräg sind, aber zu diesem Ereignis lag er besonders weit nebendran.
Jedenfalls habe ich etwas Anderes beobachtet. Sicher lag es daran, dass es ein Delegierten- und kein Mitgliederparteitag war, aber die Partei hat – anders als früher – bemerkenswert erwachsen und diszipliniert agiert. Zumindest die große Mehrzahl der Delegierten hat offenbar gelernt, dass
- man nicht fertig wird, wenn man zu lange für das Präsidium, die Tagesordnung und Grußworte benötigt
- eine Parteitagsregie erforderlich ist, und man ihr auch überwiegend folgen sollte
- der Gesamteindruck in den Medien wenigstens so bedeutsam ist wie die Beschlüsse
- der politische Erfolg eines Parteitages nicht davon abhängt, ob man als Delegierter dort einen Antrag durchbekommen hat
- eine gewisse sprachliche Mäßigung den Konsens mehr fördert als ein allzu drastisches Vokabular
- Kompromisse keine Schande sind und Tauschgeschäfte auch nicht
- man nicht alle wichtigen Themen an einem Tag behandeln kann
- Anträge auf Nichtbefassung vorzeigbare Ergebnisse ermöglichen
- Zufallsergebnisse sehr schädlich sein können
- das Organisieren von Mehrheiten ein gewisses Maß an Intransparenz erfordert.
Lange Zeit galt in der AfD – so wie früher bei den Grünen und bis zu ihrem Suizid bei den Piraten – dass die Partei nicht nur ein singuläres Programm haben sollte, sondern auch die Parteiarbeit, die Willensbildung und die Personenkür ganz und gar anders laufen sollten als bei den “Altparteien“. Anscheinend haben inzwischen auch diejenigen Delegierten, die immer stolz darauf waren, keinerlei frühere Parteierfahrung zu haben, inzwischen genügend eigene AfD-Parteierfahrung gesammelt, um zu merken, dass dies eine Illusion ist. Wie Parteien funktionieren und welche Verhaltensweisen sich dort bewähren, wird im Wesentlichen von den Gesetzmäßigkeiten der Kommunikation und der Gruppendynamik, der Kleingruppen- und Organisationssoziologie, dem Parteiengesetz und dem Wahlrecht bestimmt. Auch hier wird man erwachsener, indem man etwas weniger idealistisch wird.
Viele Medien waren im Vorfeld voller Hoffnung auf ein Remake von 2015 mit Selbstzerlegung auf offener Bühne. Anlass zu solchen Hoffnungen gaben ihnen vorangegangene Konflikte um exzentrische Personen wie Gedeon und Höcke und deren extremistische Äußerungen sowie der von dem FAZ-Journalisten Justus Bender (hinter der Bezahlschranke) brilliant beschriebene Prozess des Selbstselektion und Radikalisierung innerhalb der Mitgliedschaft. Als Kronzeugin dafür hatte sich wenige Tage vor dem Parteitag ausgerechnet die Parteivorsitzende mit einem nachgeschobenen Leitantrag angeboten, der scheinbar aus heiterem Himmel eine dringende Richtungsentscheidung zwischen einer “realpolitischen Strategie“ und einer “fundamentaloppositionellen Strategie“ einforderte. Anscheinend hatten Schwangerschaftshormone von ihr Besitz ergriffen und eine Showdown-Euphorie ausgelöst.
Die Mehrzahl der Delegierten erkannte mit Leichtigkeit, dass die von der Vorsitzenden als Köder ausgelegte Frage, ob und wann und mit wem und unter welche Voraussetzungen die AfD regieren möchte, wenigstens zwei Legislaturperioden lang keinerlei praktische Entscheidungsrelevanz haben wird. Daher wäre es gänzlich kontraproduktiv gewesen, sich ausgerechnet hierüber mit ziemlich theoretischen Vokabeln und Argumenten öffentlich in hinter Personen versammelte, aber nicht sachpolitisch definierte Lager zu zerstreiten. Dabei kam es doch bei der geplanten Verabschiedung des Wahlprogrammes darauf an, Einigkeit zu demonstrieren. Die deutschen Wähler lieben Einigkeit bei ihrer jew. Lieblingspartei. Also fand der fällige Antrag auf Nichtbefassung auf Anhieb seine Mehrheit.
Das hätte diversen Medien so gefallen, aus einer hitzigen Diskussion, in der nach und nach die gesamte schmutzige Wäsche gewaschen worden wäre, gigabiteweise sendefähige gegenseitige Vorwürfe und Bloßstellungen zu gewinnen. Daher hatten sie Frauke Petri und Alexander Gauland vor dem Parteitag reichlich Gelegenheit gegeben, sich zu positionieren. Dabei blieb dem breiten Publikum jedoch immer verborgen, wodurch die politisch offensichtlich eher heterogene Anti-Petri-Koalition der mit ihr nicht verheirateten Männer eigentlich zusammengehalten wird.
Anders als der untergegangene Leitantrag insinuierte, ist es keine fundamentalistische Rechtsaußengesinnung, sondern die übereinstimmende, erfahrungsbasierte Einschätzung der Person Petri. Historisch bedingt kenne ich einige Menschen, die über Erfahrung aus gemeinsamer Vorstandstätigkeit mit Frauke Petri verfügen. Sie behaupten mit nur geringen Differenzierungen, die Parteivorsitzende habe einen zweifelhaften Charakter und sei durch und durch intrigant. Im Prinzip sei auch Ehemann Marcus Prezell dieser Ansicht, nur fände er diese Züge halt liebenswert weil er sich darin wiedererkenne. Man darf vermuten, dass sich solche Einschätzungen im Laufe der Zeit auch bei Sympathisanten in die Wahrnehmung schieben – so wie es Bernd Lucke gelungen war, in seinem letzten halben Jahr als Parteivorsitzender den Ruf zu verfestigen, er sei nicht kooperationsfähig und beratungsresistent.
Ihrem Co-Vorsitzenden Jörg Meuthen hatte Petri in der Antisemitismus-Causa Gedeon öffentlich von hinten in die Kniekehlen getreten, so dass sich sicher alle seine Fans freuten, dass am Samstag für ihn endlich der Tag der Rache gekommen war. Mit einer anfangs nur klugen, später fulminanten Rede begeisterte er eine breite Mehrheit der Delegierten, auch solche, denen er sonst vielleicht zu wirtschaftsliberal und zu professoral auftritt.
Es ist zweifellos ihr wirkliches Alleinstellungsmerkmal, wenn die AfD die Bewahrung von Deutschland angesichts von Massenzuwanderung und Überfremdung, Islamisierung und Brasilianisierung zum Topthema macht.
Schon unmittelbar nach der Gründung der AfD hatten viele Medien damit begonnen, von einem ständigen – sozusagen monatlich voranschreitenden – Rechtsruck zu berichten, so lange, bis tatsächlich mehr und mehr Interessenten, deren spezieller Spleen ein Hang zum Geschichtsrevisionismus ist, erkannten, dass sich hier die Chance zu eine neuen rechten Partei in Deutschland ergeben hatte, eintraten und eine aktive Minderheit bildeten. Wenig bis gar nichts hört und liest man dagegen über eine im Sinne der politischen Gesäßgeografie völlig gegenläufige Entwicklung, die Sozialdemokratisierung der AfD auf dem Gebiet der Sozialpolitik. Das am Sonntag mit 92% der Stimmen beschlossene Wahlprogramm ist schon heute ganz anders als wenn es schon vor zwei Jahren beschlossen worden wäre. Dennoch gab es auf dem Parteitag hierzu eine ganze Reihe von Änderungs- und Ergänzungsanträgen, die alle eines gemeinsam hatten: Sie waren linker als der Entwurf der Programmkommission. Zwar war der Parteitag klug genug, wegen zu großer Komplexität und Interdependenz von Steuern, Renten, Arbeitsmarkt und Transferansprüchen qua Nichtbefassung weitgehend auf unsystematisches Draufsatteln auf einen als ausgeglichen angesehenen Entwurf zu verzichten.
Lediglich einen populistischen Ausrutscher hat sich die Mehrheit spontan gegönnt. Die Forderung, den Mehrtwertsteuersatz von 19% auf 12% zu kürzen zugunsten der Massenkaufkraft. Hätte noch jemand den Antrag gestellt – der spürbar in der Luft lag – dafür bei der Einkommensteuer die Progressionszone auszudehnen und den Spitzensteuersatz zu erhöhen, wäre das Paket auf einmal links gewesen.
Es ist jedenfalls absehbar, welche Themen die nächsten Parteitage bestimmen werden, und wohin die Reise wahrscheinlich gehen wird.
Der viel gescholtene Populismus der AfD wird voraussichtlich für alle, die am Samstag mit höchstens 20% der versprochenen Manpower in Köln gegen einen selbstgebauten Popanz demonstriert haben, eine völlig unerwartete Richtung einschlagen. Das wird noch mehr Wählern interessante Alternativen eröffnen, so dass das Feindbild durch die Guten noch grobschlächtiger wird gezeichnet werden müssen. Die alten Medien werden noch ein paar Wochen vom Rechtsruck schreiben und senden, aber es wird wohl gegen die neuen Medien nicht anhaltend helfen. Die Umfragen der AfD werden wieder nach oben gehen.