Essay von Prof. Dr. Hans-Peter Schwöbel, Mannheim
Es ist ein lebensgefährlicher Irrtum, sich multikulturelle Gesellschaften uferlos und unbeschützt vorzustellen. Neben Offenheit, Mobilität, Vielfalt und Toleranz, braucht jede Gesellschaft auch Stabilität, Verlässlichkeit, Kontinuität, Grenzen und Achtung vor dem weltlichen Recht. Achtung vor Frauen; Lust auf Aufklärung und Wissenschaft. Wir müssen die europäischen Grenzen zuverlässig sichern, um wieder politikfähig zu werden. Illegale Einwanderer müssen ihrer Heimat wieder anvertraut werden. Dazu braucht es keinerlei Fremdenfeindlichkeit sondern nur demokratische und rechtsstaatliche Entschlossenheit.
Kulturfluchten.Fluchtkulturen.
Kulturen sind Deutungs-, Interpretations-, Verstehens- und Verständigungshorizonte. Sie umhüllen uns, verbinden uns, trennen uns und schlagen in uns Wurzeln. So sind nicht nur Sprache, Glaube, Alltagsbrauchtum, Tradition, Bildung, Wissenschaft, Kunst, Musik, Literatur, professionelles und alltägliches Gewusst-Wie, Philosophie, Medizin, Erinnern, Vergessen und Vieles mehr kulturell geprägt, sondern auch Gefühle, Gewissen, Verhaltenswahrscheinlichkeiten und Verantwortungsbereitschaft. Also alles, was wir gerne mit den Worten Charakter und Mentalität umschreiben im Sinne individueller und kollektiver Gemüts- und Geisteszustände.
Als Sozialwissenschaftler, Pädagoge und Schriftsteller arbeite ich seit Jahr-zehnten für eine offene, tolerante, multikulturelle Gesellschaft. Multikulturell verstanden als Vielfalt im Sinne der oben exemplarisch genannten Felder. In unseren Tagen unverzichtbar verbunden, geschützt und gestärkt durch Aufklärung, Demokratie, Rechtsstaat, Toleranz und wechselseitige Achtung.
Es ist aber ein lebensgefährlicher Irrtum, sich multikulturelle Gesellschaften uferlos und unbeschützt vorzustellen. Neben Offenheit, Mobilität, Vielfalt und Toleranz, braucht jede Gesellschaft auch Stabilität, Verlässlichkeit, Kontinuität, Grenzen und Achtung vor dem weltlichen Recht. Achtung vor Frauen; Lust auf Aufklärung und Wissenschaft. Dies Gewebe müssen wir täglich neu schaffen und festigen. Wehe, auch nur eine Glaubensgemeinschaft stellt ihre „Allwissenheit“, ihr „Gottesgnadentum“, ihr „Heiliges Buch“, ihren „Alleinerlösungsanspruch“ über die Ideen der anderen und die weltliche Verfassung. Wehe, es entstehen auch nur größere Minderheiten, die Demokratie und Rechtsstaat verachten und Solidarsysteme missbrauchen. Zur Zerstörung von Demokratie, Solidargemeinschaft und Rechtsstaat braucht es keine statistischen Mehrheiten.
Gott ist Idee
Glauben heißt, sich etwas vorstellen. Gott ist Idee. Ob es ihn darüber hinaus als objektive, außermenschliche Realität gibt, wissen wir nicht. Aber wir dürfen es glauben, wir dürfen es uns vorstellen. Religionen sind Erzählungen, Narrative. Nationen sind Erzählungen. Familiäre Beziehungen und alltägliches Brauchtum sind Erzählungen. Klassen, Stände, Kasten sind Erzählungen, Heimat und Fremde sind (Rahmen-) Erzählungen: Vorstellungen. Vergangenheit ist Erzählung (Geschichte). Zukunft ist Erzählung (Utopie, Vision). Wir Menschen brauchen diese Narrative; denn wir vergemeinschaften, verinnerlichen und konturieren uns im Kontext dieser Erzählungen. Sie bilden individuelle Persönlichkeits- und überindividuelle Kulturmuster, die uns Halt geben, und mit deren Hilfe wir uns selbst und einander erkennen und begegnen. Daran ist nichts Beschämendes und Gefährliches, solange wir nicht glauben, mit unseren Vorstellungen objektive über allem stehende Wahrheiten zu besitzen.
Rorschachtest Religion
Gerade Religionen sind komplexe Deutungsmuster. Sie haben etwas von einem Rorschachtest: Was immer wir in Glaubenszusammenhängen von uns geben, sagt wenig über eine äußere, objektive Realität, aber viel über uns. Weil in Glaubensfragen Phantasie und Empfinden, Sehnsucht, Projektion und Konstruktion so bedeutsam sind, stehen Religionen (wenn sie uns human gelingen!) den Künsten näher als den Wissenschaften. Religionen können eindrucksvolle und hilfreiche Gesamtkunstwerke sein. Nicht felsenfeste Gewissheiten stehen im Raum, sondern Deutungen, Interpretationen, Wahrnehmen, Für-Wahr-Halten. Vor allem: Für-Wahr-Halten-Wollen. Hinter diese Einsicht der europäischen Aufklärung und Wissenschaftsentwicklung dürfen wir nicht zurück. Die Aufklärung ist keine westliche Folklore, sie hat Weltgeltung.
Flucht wovor?
Wovor fliehen Menschen in so großer Zahl nach Europa, besonders nach Deutschland?
Menschen fliehen vor Krieg und politischer Verfolgung. Wenn es nur um sie ginge, könnten wir das Versprechen der Bundeskanzlerin, das sie, ohne uns zu fragen, aber in unserem Namen gegeben hat, vielleicht erfüllen: „Wir schaffen das.“ Aber es geht um viel mehr. Menschen fliehen vor implodierendem (Navid Kermani) und explodierenden Islam. Gleichzeitig tragen sie Islam in sich. Viele fliehen vor der Unbedingtheit des Koran und glauben dennoch an ihn als unveränderliches, unbezweifelbares und nicht relativierbares Wort Gottes. Große Islamische Bewegungen erzeugen seit Jahrzehnten einen globalen Missionsdruck wie seit den Gründergenerationen nicht mehr. Im Nahen Osten und in Afrika finden vor unseren Augen Christenverfolgungen und –vertreibungen durch Muslime statt, ohne dass wir dem vernehmlich entgegentreten. Unser Schweigen ist beschämend.
Im Gespräch mit dem malischen Schriftsteller Ousmane Diarra weist die Süddeutsche Zeitung darauf hin, dass 1950 noch 80% der malischen Bevölkerung Animisten waren, heute sind 90% der Malier Muslime. (Süddeutsche Zeitung, 16.07.2015, S. 11) Auch in Deutschland und Europa nimmt die Zahl der Muslime stark zu, während Christen in Scharen ihre Kirchen verlassen. 2017 sind in Deutschland knapp 170 000 Katholiken und 200 000 Protestanten aus ihren Kirchen ausgetreten. Es gab in den letzten Jahren auch schon deutlich höhere Zahlen. Dies ist eine Feststellung, kein Vorwurf; denn natürlich gehören zu unseren religiösen Grundrechten auch Atheismus und Agnostizismus.
Atheisten und Agnostiker brauchen vielleicht in den nächsten Jahren den größten Schutz. Atheismus und Agnostizismus gehören zu den geistigen Errungenschaften Europas. In ihren anspruchsvollen Varianten sind sie authentische Kinder der Aufklärung. Unsere viel zitierten und wenig genau beschriebenen abendländischen („jüdisch-christlichen“) Werte werden nicht von ihnen bedroht, sondern von stumpfsinnigen religiösen Fundamentalismen einerseits und ähnlich geistarmer Infantil- und Spaaaß-Gesellschaft andererseits. Zwischen diesen Extremen könnten unsere wirklichen westlichen Werte zerrieben werden.
Menschen fliehen vor der Tyrannei ihrer Großfamilien und Clans – und tragen sie gleichzeitig mit sich. Sie fliehen vor männlicher Verantwortungslosigkeit, Unhöflichkeit, Ignoranz und Dominanz. Sie fliehen vor Gynophobie, Homophobie und Antisemitismus – und breiten diese Deformationen hier wieder aus. Sie fliehen vor Blutrache und Faustrecht. Sie leiden unter Mangel an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und verachten gleichzeitig diese kulturellen Muster. Sie fliehen vor der Trostlosigkeit ihrer Dörfer und Städte ins gleißende Licht Europas, das ihnen seit Jahrzehnten von großen und kleinen Bildschirmen entgegenflimmert. Sie blicken in verzauberte Spiegel und finden sich in Europa. Sie kommen in Massen zu uns, weil sie hierher gelockt und von demagogischen muslimischen (verschiedentlich auch christlichen) Predigern hierher geschickt und befohlen werden.
Integration?
Man wird sagen, es sei gerade Aufgabe von Integration, individuelle und kollektive Spannungen durch Lernen solidarisch zu überwinden, sodass wir in gemeinsamen, tastenden Lernprozessen auch unsere alten Demokratien und Rechtsstaatlichkeiten erneuern und vertiefen; denn natürlich ist auch in den Kernländern westlicher Aufklärung nicht alles Gold, was glänzt. Ja, so müsste man sich das vorstellen. Dagegen spricht aber das Tempo der Immigrationen, die gewaltigen kulturellen Distanzen und die hohen Zahlen der Ankömmlinge. Enorm die brachiale Energie, mit der Gesetze und Grenzen überrannt werden.
Flucht? Zuwanderung? Einwanderung? Invasion? Stampede?
Wenn es um Integration geht, sind schiere Zahlen und kulturelle Distanzen von entscheidender Bedeutung. Es gibt psychische und soziale Strukturen, die man nicht einfach hinweg-nächstenlieben kann! Ein Mensch, für den sein Heiliges Buch über allem steht, kann sich nicht weltlichem Recht unterwerfen, ohne zuvor oder währenddessen tiefgreifende Persönlichkeitsveränderungen zu durchlaufen. Wer mit diesen Faktoren fahrlässig umgeht, kann großes Unheil heraufbeschwören. Zu glauben, all die in afrikanischen, arabischen, asiatischen, lateinamerikanischen Kulturen versäumten Reformen, Reformationen und geistigen Revolutionen unter den Immigranten Europas nachholen zu können, käme einem selbstmörderischen Größenwahn gleich. Selbst alteingesessene Fremde in Europa desintegrieren sich zurzeit zielstrebig noch oder wieder in der dritten und vierten Generation.
Inbrunst und Besessenheit
Viele Mitteleuropäer sind inzwischen so säkularisiert, dass sie sich in religiöse Inbrunst, Besessenheiten und Heilsgewissheiten nicht mehr hinein versetzen können. Mit der tupfenden Betulichkeit von Sozialpädagogen und Resozialisierungsexperten nähern wir uns ratlos einer Deformation, die mit unseren an Klassenlagen und Bildungskarrieren geschulten Diagnosen und Konzepten nicht verstanden werden können: dem religiösen Wahn.
Sexualität ist bei uns so enttabuiert, dass wir uns die bizarre Erhöhung und gleichzeitige Erniedrigung des Weiblichen in Verhüllungskulturen kaum mehr vorzustellen vermögen. Einzig die katholische Kirche lässt uns noch ahnen, was dereinst unter der (nicht nur spirituellen!) Unreinheit der Frau verstanden und empfunden wurde.
Gott mehr gehorchen
Ich bin in einem strengen Pietismus aufgewachsen und habe als Kind einige Zeit auch in einer Pfingstgemeinde verbracht (in Zungen reden, Zeugnis ablegen, Teufel austreiben…). Für die Menschen meines Milieus war undenkbar, weltliches Recht über die Bibel zu stellen. Für viele strenggläubige Christen gilt: „Petrus und die Apostel antworteten: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ (Apostelgeschichte 5,29) Ebenso gilt Johannes 14,6: „Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ Das hat Konsequenzen für demokratische Legitimation und Loyalität. Der religiöse Hochmut, des in den siebziger Jahren scherzhaft so genannten ‚Pietcong’, wurde und wird aber gebändigt durch einen beachtlichen Bildungswillen vieler Frommen und durch ihre Friedfertigkeit. Ihr strenger Glaube trägt den Keim zur Emanzipation in sich. Man kann sich das etwa wie beim Judentum vorstellen. Insofern: wenig Parallelen zu den meisten Islamen.
Nach meiner Erfahrung erleben gläubige Muslime die Unbedingtheit des Koran noch viel stärker als fromme Christen ihre Bibel – nicht nur Salafisten und Killer fürs Kalifat. Kritischer Bildungswille steht bei Muslimen nicht immer ganz oben auf den individuellen und kollektiven Motivationsskalen, tritt oft als Zumutung von außen an die Menschen heran. Vielen genügt der Koran als Antwort auf alle Fragen.
Überalterung – Überjüngerung?
Die meisten Menschen fliehen aus Ländern, denen das Bevölkerungswachstum über den Kopf wächst. Industriegesellschaften haben nach dem Zweiten Weltkrieg ihr Bevölkerungswachstum reduziert oder eingestellt. Dies gehört zu den wenigen objektiven Hoffnungszeichen im Hinblick auf Dämpfung kultureller, politischer und ökologischer Krisen. Die damit einhergehenden Probleme sind winzig, verglichen mit denen, die aus hohem Bevölkerungswachstum resultieren. Den Menschen hierzulande hat man ihr vernünftiges Verhalten als demografische ‚Falle’, als egoistisches Versagen vorgehalten. Es fehlt uns offenbar an Phantasie, Mut und Verstand, uns vorzustellen, wie ‚vergreist’ die Welt sein wird, wenn das heutige globale Baby-Booming ins Alter wächst. Oder wollen wir die Weltbevölkerung ewig ‚verjüngen’, indem wir unverdrossen die Reproduktionsbasis verbreitern?
Tatsächlich spielt sich die demografische Katastrophe im Süden ab in Form eines nach wie vor viel zu hohen Bevölkerungswachstums. Krieg und Gewalt im Süden sind vor allem Ausfluss von Überbevölkerung – bezogen auf geringe Produktivität, schwindende Ressourcen und harte kulturelle Entwicklungsblockaden. Die Unerschöpflichkeit der ‚Masse Mensch’ entwertet und entpersönlicht objektiv das Individuum. Sie ist unter anderem Ressource derer, die Politik mit Selbstmordattentätern betreiben (seit Jahrhunderten).
Aus dem Aberglauben in die Länder der Aufklärung
Menschen fliehen aus Kulturen, die die europäisch-amerikanische Aufklärung nicht mit- oder nachvollzogen haben. Es zieht sie gewaltig zu den Früchten dieser Aufklärung, ohne in vielen Fällen die Zusammenhänge von Aufklärung, westlicher Lebensweise und Produktivität zu ahnen. Epidemien wie Aids, Ebola und viele andere, entfalten in vielen afrikanischen Ländern auch deshalb besonders heftige Dynamiken, weil nicht nur die breite Masse der Bevölkerung, sondern selbst Eliten einen naturwissenschaftlich-medizinischen Umgang mit diesen Gefahren zugunsten obskurer ‚Erklärungen’ verweigern oder zumindest schwächen.
Dass auch vielen alteingesessenen Europäern die aufklärerischen Wurzeln westlicher Zivilisationen nicht mehr konkret bewusst sind, vergrößert die Gefahr. Wie den Neuankömmlingen fehlt ihnen vor allem auch die Kritik an den modernen Infantil- und Wegwerfgesellschaften. Die Glitzerwelt des schlechten Geschmacks und trivialen Konsums zieht viele stärker an, als jede freiheitliche Verfassung. Für uns gibt es insofern keinen Grund zu Hochmut.
Menschen fliehen vor Arbeitslosigkeit
In vielen Ländern des Südens herrscht erdrückende Arbeitslosigkeit. Dabei steht dort das Ungetane, das dringend zu Tuende, bergehoch: Vollbeschäftigung mit Fünfzig-Stunden-Woche wäre geboten. Die Arbeitslosigkeit ist keineswegs dem Mangel an Arbeit geschuldet, sondern politischem und kulturellem Unvermögen und Unwillen der globalen Gemeinschaften, aber auch der jewei-ligen nationalen, regionalen und lokalen Strukturen, Eliten und Kulturen, das dringend zu Tuende in menschenwürdige (!) Arbeitsplätze umzusetzen und mit Kapital auszustatten.
Die Bewohnbarkeit der ganzen Erde verteidigen!
Dazu gehört: Menschen fliehen zunehmend vor welt- und hausgemachten Umweltkrisen und -katastrophen. In Deutschland besteht angesichts der Beiträge der Industriestaaten zum Klimawandel (…wir sind Schuld!) schon jetzt eine hohe Bereitschaft, entsprechende Fluchtgründe zu akzeptieren. Ich empfehle das Gegenteil: Wir müssen die Bewohnbarkeit der ganzen Erde verteidigen, und was verloren scheint, zurückgewinnen. Dazu braucht die autochthone Bevölkerung in prekären Regionen und sozialen Schichten die Hilfe der Hochproduktiven. Und die Welt wiederum braucht die Liebe und das Engagement alteinge-sessener Bevölkerung, um notwendige ökologische, technische und gesellschaftliche Transformationen zu bewerkstelligen. Generell glaube ich angesichts einer Weltbevölkerung von demnächst acht Milliarden Menschen nicht an die heilende Wirkung von Massenmigration. Häufig gezogene Vergleiche zu anderen Migrationsepochen überzeugen mich nicht.
Das notwendige Kapital steht weltweit in Billionenhöhe bereit, wird aber an den Stellen, an denen es besonders gebraucht wird, nicht eingesetzt. Dies ist nicht nur kriminellen Rücksichtslosigkeiten, krankhaften Egoismen und menschenverachtenden Interessen globaler Kapitalgeber geschuldet, sondern ebenso nationalem, regionalem und lokalem Unvermögen, produktive Projekte zu planen und zu implementieren. Ich habe bei meinen Arbeits- und Forschungsaufenthalten in Somalia, Gambia, im Senegal, im Iran und in der Karibik viele lokale Zustände erlebt, die mit geringem Aufwand an Arbeit, Know-how, Kapital und Technik deutlich zum Besseren gewendet werden könnten, wenn sich nur die entsprechenden lokalen, regionalen und staatlichen Initiativen bilden würden. Slums im Süden könnten für einen Bruchteil des Geldes in menschenwürdige Städte verwandelt werden, das eine mittlere Neubausiedlung in Deutschland kostet.
Brennende Probleme könnten gelöst und viele Arbeitsplätze mit zumutbarem Aufwand geschaffen werden. Gerade viele afrikanische, arabische und manche asiatischen Eliten spüren wenig Neigung ihr (zum Teil beachtliches) Kapital im eigenen Land zu investieren; denn schwierige Entwicklungen im eigenen Land anstoßen und fördern und gleichzeitig hohe Renditen einstecken, schließt sich aus. Kofi Annan hat auf der Sicherheitskonferenz in München im Februar 2016 in einer Rede die anwesenden Staats- und Regierungschefs in diesem Sinne scharf angegriffen. (Kofi Atta Annan, (1938 – 2018) war ghanaischer Diplomat. Er war zwischen 1997 und 2006 siebter Generalsekretär der Vereinten Nationen.) Der Präsident Afghanistans, Aschraf Gahni, wirft den afghanischen Eliten immer wieder Raub am eigenen Volke vor.
Alle Probleme dem „großen Satan“ Amerika und den alten europäischen Kolonialmächten in die Schuhe zu schieben, und dabei kulturspezifische Reifungsverweigerungen sowie Entwicklungs- und Emanzipationsblockaden in den Ländern des Südens beharrlich zu leugnen, legitimiert und stabilisiert diese Blockaden. Sie auch nur anzusprechen, wird in Deutschland mit Ausgrenzung und dem Vorwurf des Rechtspopulismus bestraft.
Lechts – Rinks?
Ernst Jandl: „Lichtung – manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechsern. werch ein illtum.“ Wieder einmal versagen die deutschen Linken. Mit ‚die Linken’ meine ich nicht nur die Partei dieses Namens, sondern ebenso große Teile der Grünen und der SPD, aber auch zahllose zivilgesellschaftliche, z.B. kirchliche, Bürger- und Basisinitiativen und NGOs. Menschen und Organi-sationen also, die sich selbst in einem umfassenden, wenn auch unscharfen Sinne, als ‚links’ bezeichnen. Beflissen tragen sie dazu bei, globale Kulturkonflikte, wie sie sich unter anderem bei den machttrunkenen und sexualisierten Neujahrskrawallen 2016 in Köln und vielen anderen Städten ebenso wie in den nicht endenden Anschlägen weltweit entladen, in einen innerdeutschen, in-nereuropäischen, gar weltweiten Rechts-Links-Konflikt umzudeuten. Entsprechend hilflos reagieren wir auf die rasante, entschieden antidemokratische Islamisierung der Türkei, die sich seit Jahren vollzieht, ganz unverhohlen aber seit dem ‚Putsch’ im Juli 2016.
Religionskritik? Zivilisationskritik?
Wie steht es um die linke Kernkompetenz Religionskritik? Kritik an der katholischen Kirche gibt es noch, nicht aber am Islam. Das wäre ja ‚Rassismus’ (und außerdem gefährlich). Wir erlauben uns, uns möglichst nicht mit Besonderheiten islamischer Kulturen zu befassen. Wer liest schon den Koran? Wir üben unser Grundrecht auf Ahnungslosigkeit aus.
Linke Zivilisationskritik? Kaum, und wenn doch, am liebsten am Westen. Das machen wir schon seit Jahren. Wir müssen uns nur wiederholen. Das schweißt zusammen. Linke und liberale Aktivisten begrüßen Arm in Arm mit hohen Konzernvertretern begeistert den Zustrom billiger Arbeitskräfte, die in ihren Heimatländern viel dringender gebraucht würden. Dass der Mindestlohn praktisch Makulatur ist – kein Problem! Kritik an Brain-Drain und Manpower-Drain, die Europäer und Amerikaner schamlos ausnutzen? War gestern!
Die Grundkrisen sind Kulturkrisen
Armut, Kriege, Bürgerkriege und Terrorismus sind nur die schlimmsten Eskalationsprozesse umfassender Kulturkrisen und -zusammenbrüche. Die Massenmigration von Menschen vollzieht sich vor allem als Kulturflucht. Länder, aus denen sich die Fluchten vollziehen, verlieren mit den jungen Menschen die letzte reale Basis für Entwicklung. Aufnahmeländer wiederum könnten ihre kulturelle Balance einbüßen. Große Räume in Afrika, in Asien und im Nahen Osten könnten sich in den nächsten Jahren entleeren bis zur völligen Entwicklungsunfähigkeit. Europas Bevölkerung dagegen könnte weit über Gebühr verdichtet und dabei nahezu zwangsläufig in Parallel- und Gegengesellschaften zerklüftet werden, mit rasch steigenden Konflikt- und Gewaltpotentialen.
Langsam dämmern Fragen und selbst Willkommens-Euphoriker fordern: Wir müssen die Flucht-Ursachen bekämpfen. Mehr als die fast vollkommen berechtigte Kritik an deutschen Waffenexporten kommt dann aber nicht. Die Waffenlieferungen sind der letzte Strohhalm, an den sich die Guten zwecks leidenschaftlicher Lust an westlicher (vor allem deutscher) Schuld noch klammern können. Die Betonung der Waffenlieferungen als mit Abstand wichtigster Ursache für Gewalt, Krieg und Flucht, nährt die Illusion, „wir“ hätten damit den entscheidenden Hebel in der Hand, die Gewalt zu beenden. Dieser schwere Irrtum beruht auf tiefen Unkenntnissen demographischer, politischer, religiöser und anderer kultureller Verwerfungen im Süden.
Voraussetzung für die Bekämpfung der Migrationsursachen Bevölkerungsexplosion, Armut, globale Bildungskatastrophen, Gewalt, Krieg und konzernartig gesteuerter Kriminalität ist, sich diese ungeschminkt und ohne wechselseitige Dämonisierung vor Augen zu führen.
Erstens: Wir müssen die europäischen Grenzen zuverlässig sichern, um wieder politikfähig zu werden. Illegale Einwanderer müssen ihrer Heimat wieder anvertraut werden. Dazu braucht es keinerlei Fremdenfeindlichkeit sondern nur demokratische und rechtsstaatliche Entschlossenheit. Dies würde gerade das Vertrauen jener Immigranten in deutsche Behörden stärken, die wir zur Heimkehr bewegen müssen. Immigranten, die unser Land ungefragt mit ihren zahlreichen Kompetenzen, aber ohne jede rechtliche Grundlagen bereichern wollen, dürfen wir nicht länger zum Narren halten und ihnen Perspektiven vorgaukeln, zu deren Erfüllung die entsprechend leistungsfähigen Ökonomien erst noch erfunden werden müssen. Wir müssen sie so schnell in Flugzeuge setzen, dass sie ihre vielen jüngeren Brüder und Vettern noch davon abbringen können, ihre kostbaren Ideen und ihre Arbeitskraft bei den ausbeuterischen Deutschen zu verschenken, sondern beides, gegen Löhne mit Mindestlohngrenze in ihrem eigenen Land zu investieren.
An Entwicklungsprojekten beteiligen sich meine Frau und ich schon seit fünfzig Jahren, auch unter Einbringung unserer eigenen Gesundheit und temporären Inkaufnahme gesenkter Lebenserwartung. Trotz gemischter Erfahrungen würden wir daran festhalten. Allerdings: In vielen Ländern warten Helfer und Geber seit Jahrzehnten vergeblich auf selbsttragende Effekte. Ohne diese ist alles vergeblich.
Zweitens: Wir müssen in Deutschland den Neubeginn einer Debattenkultur versuchen, der Menschen an einen Tisch führt, die glauben, sich hassen zu dürfen. Zurecht erwarten wir von den Konfliktparteien zum Beispiel in Syrien, sich an einen Tisch zu setzen, um Frieden zu suchen. Da sind Menschen und Gruppen dabei, die sich gegenseitig viel Schlimmeres vorzuwerfen haben, als die ‚Lechten’ und ‚Rinken’ in Europa.
Kein anderer Weg führt aus der Hölle. Noch könnte in Deutschland Zeit genug sein, sich aus zerstörerischen Gruppendynamiken zu lösen und wechselseitige Hetze und Verachtung durch Achtungs-, Denk-, Sprech- und Zuhörleistungen zu überwinden. Diese Debatte müssen wir als Deutsche und Europäer führen. Wer (noch) nicht dazu gehört schweigt. Die Zeit läuft.
Zuerst veröffentlicht auf dem Blog des Autors: hpschwoebel.com
Und bei Vera Lengsfeld in drei Tranchen: Teil I, Teil II, Teil III